Ein Netz der Netze: das Europäische Verbundsystem

Das europäische Stromnetz besteht nicht nur aus technischer Infrastruktur. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit ist dabei ebenso wichtig. Foto: naturenergie netz
Das europäische Stromnetz besteht nicht nur aus technischer Infrastruktur. Die grenzübergreifende Zusammenarbeit ist dabei ebenso wichtig. Foto: naturenergie netz

Strom in Europa „schunkelt“ einheitlich – im „Takt“ von 50 Hertz. Für eine stabile Netzfrequenz und damit für eine sichere Stromversorgung auf unserem Kontinent sorgt das Europäische Verbundsystem. In diesem Beitrag geben wir einen Überblick über den Aufbau, die Entstehung sowie die Funktionsweise dieser gemeinsamen Infrastruktur.

Von Patrick Torma

Das Europäische Verbundsystem lässt sich bildlich als zentrales Nervensystem Kontinentaleuropas vorstellen. Über ein engmaschiges Geflecht aus Hoch- und Höchstspannungsleitungen sind die Stromnetze der einzelnen Staaten mit ihren Regelzonen miteinander verbunden. Welche Regionen ans Verbundsystem angeschlossen sind, schauen wir uns gleich an. Zunächst werfen wir einen Blick auf die Grundlagen:

Blick ins „zentrale Nervensystem“ Europas

Durch Europas „Nervenbahnen“ fließt Dreiphasenwechselstrom. Die Netzfrequenz beträgt 50 Hertz, was bedeutet, dass der Strom 50-mal in der Sekunde „schwingt“.

Diesen Takt zu halten, ist eine der wesentlichen Herausforderungen des Netzbetriebs. Für eine stabile Netzfrequenz müssen Stromangebot und -nachfrage im Gleichgewicht stehen, denn Strom kann nicht einfach gelagert werden. Erzeugt wird daher die elektrische Energie, die unmittelbar benötigt wird. Ist zu viel „Saft“ im Netz, drohen Überlastungen, im schlimmsten Fall sogar Stromausfälle. Dieses Risiko besteht aber auch, wenn Kraftwerke ausfallen oder der Stromverbrauch unerwartet die vorhandenen Kapazitäten übersteigt. Je nach Szenario spricht man von einer Über- oder Unterspeisung.

Herausforderung des Netzbetriebs: die Frequenzstabilität

Bereits kleine Abweichungen könnten die Stromversorgung aus dem Takt bringen. Eine Netzfrequenz außerhalb eines Toleranzbereichs von 0,2 Hertz gilt als problematisch. In Deutschland überwachen die Netzbetreiber dieses Gleichgewicht: auf der lokalen Ebene sind es die Verteilnetzbetreiber wie naturenergie netze und auf der Ebene der Regelzone die Übertragungsnetzbetreiber. Sie haben gesetzlich definierte Eingriffsmöglichkeiten, um kritische Netzsituationen abzufedern – dazu gehören Maßnahmen des sogenannten Redispatch.

Das Europäische Verbundsystem wirkt dabei wie ein zusätzliches, internationales Sicherheitsnetz. Durch die Synchronisierung der europäischen Stromnetze können auch größere Engpässe und Schwankungen besser ausgeglichen werden, als wenn jedes Land ein geschlossenes „Inselnetz“ betreiben würde.

Der Weg von der Idee zum Stromverbund

Wie die europäische Idee selbst ist auch der gemeinsame Stromverbund nicht über Nacht entstanden. Die gedanklichen Wurzeln (Link öffnet Download) reichen bis ins frühe 20. Jahrhundert zurück: Erste grenzüberschreitende Stromübertragungen gab es bereits in den 1920er-Jahren. Der Vision einer Stromunion kam zunächst der Zweite Weltkrieg in die Quere.

Die massiven Zerstörungen in Europa erforderten schließlich, dass Kraftwerke und Stromnetze in der Nachkriegszeit umfassend repariert oder neu aufgebaut werden mussten. Analog zu den wirtschaftlichen Bündnissen, die in den Nachkriegsjahren geschmiedet wurden – unter anderem zur Sicherung eines dauerhaften Friedens –  rückte auch die Stromversorgung zunehmend in den Fokus einer europäischen Kooperation. 1951 wurde die Union pour la coordination de la production et du transport de l’électricité (UCPTE) gegründet, um die Vernetzung zu koordinieren. Zu den acht Gründungsnationen zählten auch Frankreich, Deutschland und die Schweiz.

Ein Meilenstein: Synchronisierung in Laufenburg

Als technischer Startschuss eines vereinten Stromeuropas gilt die Inbetriebnahme einer Schaltanlage im schweizerischen Laufenburg. 1958 wurden dort erstmals die Stromnetze der genannten drei Länder synchronisiert, was die Versorgungssicherheit auf allen Seiten der Grenzen erhöhte. Mehr über diese „Sternstunde“ erfahren Sie übrigens in diesem Beitrag.

Über die Jahre schlossen sich immer mehr Ländernetze einem Europäischen Verbundsystem an. Seit 2009 liegt die organisatorische Verantwortung beim Europäischen Verband der Übertragungsnetzbetreiber, kurz: ENTSO-E.

Laufenburg in der Schweiz
Hier begann die europäische Synchronisierung: Laufenburg in der Schweiz. Bild: naturenergie netze

Fünf Teilnetze im Europäischen Verbundsystem

Aktuell umfasst der Zusammenschluss fünf Teilnetze, die etwa 550 Millionen Menschen in knapp 40 Ländern versorgen.

Das größte ist das synchronisierte Stromnetz Zentraleuropas. Dieses „Kernnetz“ reicht von Portugal im Westen bis in die Türkei im Osten, von Dänemark im Norden bis Griechenland im Süden. Zusätzlich sind auch die Netze einiger nordafrikanischer Staaten wie Marokko, Algerien und Tunesien angeschlossen.

Daneben betreiben Großbritannien, Irland und die skandinavischen Länder aus geografischen und technischen Gründen eigenständige Netze, die über Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungen (HGÜ) mit dem zentraleuropäischen Stromnetz verbunden sind.

Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen lösen sich derzeit vom russischen Stromnetz IPS/UPS: Bis Anfang 2025 sollen die alten Leitungen gekappt und die Synchronisierung mit Europa abgeschlossen sein. Einen solchen Schritt haben die Ukraine und die Republik Moldau im Frühjahr 2022 vorgezogen, um Stromimporte aus Europa empfangen zu können – in Reaktion auf den russischen Angriffskrieg.

Ein stabiles Netz für die Versorgungssicherheit in Europa

Ob in Krisen- oder in Friedenszeiten – das Europäische Verbundsystem garantiert gegenseitige Unterstützung in Sachen Strom. Fallen in einem Land Kraftwerke oder andere Teile der Netzinfrastruktur aus, können andere Länder sofort einspringen.

Ein Beispiel dafür lieferte der 8. Januar 2021, als eine Störung in einer kroatischen Umspannanlage zu einer Kettenreaktion von Überlastungen führte, die das zentraleuropäische Stromnetz in zwei Teile spaltete. Durch gezielte Abschaltungen und Einspeisungen konnten die Teilnetze jedoch stabilisiert und innerhalb einer Stunde wieder synchronisiert werden. Das europäische Stromnetz hatte einen echten Stresstest bestanden – ohne dass es die Öffentlichkeit großartig bemerkte.

Doch auch ohne öffentlichkeitswirksame Rettungstaten zeigt sich der Wert des Europäischen Verbundsystems.

Im Sinne der Energiewende: Strom fließt über Grenzen hinweg

Denn es bildet die technische Grundlage des europäischen Strombinnenmarktes. Wird in Deutschland mehr Windenergie produziert als benötigt, kann Strom ins benachbarte Ausland fließen. Steht der Wind bei uns still, können die Kapazitäten anderer zum Tragen kommen – tatsächlich importierte Deutschland zuletzt mehr Strom. Aber nicht aus Strommangel, sondern weil der Markt die Preise regelt – so war es für die Stromanbieter lukrativer, den (Öko-)Strom der Nachbarländer einzukaufen als auf die vergleichsweise teure Gas- und Kohleverstromung im Inland zu setzen.

Das Verbundsystem gleicht also auch wetterbedingte Schwankungen aus und erleichtert die Integration erneuerbarer Energien. Es trägt damit dazu bei, die Herausforderungen der Energiewende zu bewältigen. Um das Ziel der Dekarbonisierung des europäischen Energiemarktes tatsächlich zu erreichen, wird sich das Europäische Verbundsystem allerdings weiterentwickeln müssen: Innovative Energiespeicher und intelligente Netze gelten als Schlüsseltechnologien, um Europas Stromversorgung zukunftsfähiger zu machen.

Über den Autor: Patrick Torma

(Foto: CAMILLO WIZ PHOTOGRAPHY, Camillo Lemke)
(Foto: CAMILLO WIZ PHOTOGRAPHY, Camillo Lemke)

Als freier Journalist und Texter spürt Patrick Torma spannenden Geschichten nach – und bringt sie für Leser auf den Punkt. Zu seinen Auftraggebern zählen Medien und Redaktionsbüros, aber auch Unternehmen, die ihrer Zielgruppe einen Mehrwert bieten. Technische und historische Themen begeistern ihn besonders. Da trifft es sich gut, dass die (Strom-)Netzgeschichten im naturenergie netze Blog beides vereinen.

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